Atelier auf Zeit in Indien

Februar 2017

Neujahr, 10 Uhr morgens. Während in Heidelberg noch viele ausschlafen, bin ich auf dem Weg nach Frankfurt. Mein Ziel: Bengaluru im Süden Indiens, das früher Bangalore hieß und mit 8,4 Mio. Einwohnern die drittgrößte Stadt Indiens ist.

 

Good bye Heidelberg – am 01.01.2017

 

Mein Rückflug ist für den 31. Januar gebucht. Viel mehr weiß ich an diesem Morgen nicht. Ich verlasse mich ganz auf Prakash Chennaiah, der von meiner Kunst erfahren und mich spontan zu sich eingeladen hat. In einer Halle seines Stahlbauunternehmens könne ich in den kommenden Wochen arbeiten, unterstützt von seinen Mitarbeitern und deren handwerklichem Know-how. Per Skype haben wir uns zweimal „getroffen“, dazu ein paar Mails, um die nötigsten Dinge abzustimmen.

Nur zehn Kilometer sind es von meiner Unterkunft in Bengaluru zu Prakashs Firmensitz. Morgens zwischen 9 und 9.30 Uhr werde ich abgeholt und sitze für die nächsten 30 bis 40 Minuten im allgegenwärtigen, ungefähr 8-spurigem Verkehr mit ungewohnt leisen Motorrädern, quieckenden TucTucs und Pkw, die sich in jede sich auftuende Lücke drängen. Während des Wartens an roten Ampeln klopfen Transsexuelle, die „hijras“, an die Autoscheiben. Für etwas Geld erteilen sie ihren Segen. Und auch hier in der IT-Metropole des Landes sehe ich hin und wieder Kühe mitten auf der Strasse, der Verkehr fließt einfach um sie herum. In aller Ruhe kreuzen sie die Fahrbahn, um auf der anderen Seite Gemüseabfälle zu fressen. Einmal sehe ich sogar eine Gruppe Kühe, die gegen die Fahrtrichtung über eine Schnellstraße galoppiert, und bin froh, dass mein Ziel auf einer anderen Strecke liegt.

 

Good morning Bengaluru. Alte Bäume säumen die Straßen.

 

Prakash erwartet mich gegen 10 Uhr in seinem Büro. Ich bin nicht die einzige Künstlerin, die in seinem Unternehmen Projekte realisiert. Doch meine Werke passen besonders gut zu seinem Ziel, in Bengaluru Unternehmen, Hochschulen und Institutionen für Outdoor-Kunstwerke zu begeistern. In vier Wochen sollen daher Werke für eine Ausstellung entstehen, die gleichzeitig als Modelle eine Vorstellung für potenzielle Großprojekte vermitteln.

 

Prakash Chennaiah in seinem Büro.

Um mich einzustimmen, beginne ich mit kleineren Figuren, für die ich Material aus Deutschland habe einfliegen lassen. Vieles funktioniert erstaunlich gut. Die Arbeiter in ihren Flip Flops verstehen sich aufs Schweißen und biegen Stahl sehr präzise. Eine moderne Abkantanlage ist in Gebrauch. Doch dann gibt es Probleme: Holzsockel, wie ich sie zu Hause verwende, sind hier nicht aufzutreiben. Versuche mit lackierten Oberflächen bleiben deutlich hinter der handwerklichen Qualität im Stahlbau und den Standards in meinem Atelier. Ich muss umdenken, mich ganz von der Vorstellung Sockel lösen und etwas Neues erfinden.

 

In Prakash’s Werkshalle. Hier wird an einem geodätischen Dom gearbeitet.

 

Ich kämpfe mit den Tränen, mein Hals brennt. Prakash und ich sitzen beim Mittagessen und genießen, was die indische Küche überwiegend mit Zutaten von seiner etwa zwei Hektar großen Farm zu bieten hat. Obwohl die Gerichte als „not spicy“ gelten, sind sie für mich eine – sehr schmackhafte – Herausforderung.

In T-Shirt, Jeans und leichtem Arbeitskittel kehre ich zurück in die Werkstatt. Im Kopf zeichnen sich erste Lösungsansätze ab. Ich erobere mir Werkzeug und ein Schutzgas-Schweißgerät von den äußerst zuvorkommenden und für jeden Handgriff bereitstehenden Arbeitern, um in Ruhe experimentieren zu können. Schließlich sind die Formen klar: Wir realisieren Sockel aus Stahlplatten und -stäben, gebogen und auf Pfeilern ruhend sowie für ebenerdig stehende Objekte. Zum Teil werden die neuen Konstruktionen eins mit den Figuren. Sie schreiten darüber, laufen oder scheinen sich im Sprung zu lösen und abzuheben.

 

Work in progress. Das Thema der “fallenden Stäbe” in neu errechneten Positionen und Winkeln wird verschweißt.

 

Gegen 17 Uhr geht es im Feierabend-Verkehr zurück in meine Unterkunft. Ich beobachte Inderinnen in ihren langen Gewändern an Outdoor-Fitness-Geräten im abendlich geöffneten Park und bewundere die flinken Frauen mit ihren Kindern, die zuversichtlich die Straße überqueren. Zebrastreifen oder Fußgängerampeln sind hier unbekannt. In meiner Künstlerunterkunft gehen drinnen und draußen, Wohnung und Garten fließend ineinander über. Den Abend genieße ich meist draußen auf einer kleinen Grünfläche bei frühlingshaften Temperaturen.
Zwischen Ruhe und Schaffen entstehen neue Ansätze. Ich platziere eine Figur in einem 1 x 1 x 1 Meter großen Kubus, der lediglich durch Außenkanten aus Stahl angedeutet ist. Ein imaginärer Raum entsteht, in dem die Figur zu schweben scheint. Ich fühle mich an den Science Fiction „Gravity“ erinnert, der in emotional herausfordernder Weise den Orientierungsverlust, die Isolation und existenzielle Bedrohung in der Schwerelosigkeit thematisiert. Auch die menschliche Figur in meinem Werk „Astral Dance“ hat den Boden unter den Füßen und ihr Gleichgewicht verloren. Sie schwebt alleine in einem nur schematisch angedeuteten Raum zwischen unbegrenzter Freiheit und existenzieller Einsamkeit.

 

15 Arbeiten sind in viereinhalb Wochen in Indien entstanden. Drei lebensgroße Figuren mit Konstruktionen, die den umgebenden Raum andeuten. Das Thema der fallenden Stäbe habe ich weiterentwickelt und in drei Stadien erweitert, indem ich weitere Dimensionen und Dynamiken einbezogen habe. Die Dripping Multiple-Serie ist ebenfalls um zwei Formen erweitert.

 

Ich genieße noch einmal einen süßen Nachmittags-Chai bei 28 °C, während Vorarbeiter Pravin sich um das Erledigen der letzten Handgriffe kümmert. Nun heißt es Koffer packen, nach Hause reisen und abwarten, was sich aus unseren Besuchen bei Unternehmen und an zwei Colleges ergibt und was die Werke im rund 7.000 km entfernten Indien bewirken.

 

Prakash ist optimistisch und freut sich auf ein Wiedersehen, um gemeinsam Projekte zu realisieren. Was auch immer sich entwickelt: Für mich hat das Jahr mit einem künstlerischen Abenteuer begonnen. Jetzt bin ich wieder zu Hause. Auch hier kündigt sich der Frühling an. Aufbruchstimmung. Ich freue mich auf 2017.